Lebensstufen nehmen
Es ist so eine Sache mit dem Leben.
Ich frage mich manchmal, wie man das Leben als Weiterentwicklungsprozess am besten beschreiben kann. Mir fällt eine Metapher auf: man kann das Leben mit Stufen betrachten. Das Leben entwickelt sich immer weiter. Wir müssen weitere Stufen nach oben betreten, und wenn wir stehen bleiben, ist das für uns schlecht. Ich vergleiche es gerne mit unserer Schulzeit. Wir sind in die Schule gegangen, vielleicht im Idealffall zwischen neun und 13 Jahren. Vielleicht haben wir das eine oder andere Schuljahr wiederholt, und wir haben gelernt. Wir mussten jedes Jahr etwas besser werden, um in die nächste Stufe zu kommen. Egal, ob es in Haupt-, Realschule oder Gymnasium mündete oder ob wir die eine oder andere Ehrenrunde gedreht haben. Wir konnten nicht anders als immer etwas dazulernen. Es kam Chemie dazu, Englisch, Latein, die verschiedenen Leistungsstufen kamen dazu. Vor allem baute eines auf dem anderen auf. Es war völlig klar, dass ein Fünftklässler mehr weiß als ein Zweitklässler oder ein Elftklässler mehr drauf hat als ein Siebtklässler oder ein Achtklässler mehr als ein Siebtklässler. Der Siebtklässler schaut nach oben und sieht jemanden, der mehr Erfahrung hat als er.
Das geht in der Regel nach der Schule weiter, beispielsweise in der Ausbildung. Man dreht Praxisschleifen im Betrieb, man geht in die Berufsschule oder studiert. Man muss dann Kurse belegen, Scheine machen, und auch diese Scheine bauen aufeinander auf. Ich habe Medizin studiert, ein sehr verschultes Studium. Es war ganz besonders extrem. Im Prinzip hat man in der ganzen Ausbildungszeit irgendwelche "Orden" gesammelt, um sich mit diesen "Orden" weiter zu qualifizieren. Das bedeutete, dass eine lange Zeit im Leben ein einziger Fortschritt war. Wir liefen permanent nach vorne und konnten nicht anders als uns weiterzuentwickeln. In dieser Zeit wussten wir, was wir tun und warum. Auch wenn wir darin keinen großen Sinn gesehen haben, weil wir in die Ausbildung reingeflutscht sind, so wussten wir doch, was wir zu tun hatten und waren in Bewegung und haben uns permanent Wissen angeeignet. Im Idealfall hatten wir Sinn, Ziel und Richtung und wussten warum. Wenn es nicht ideal lief, haben wir uns trotzdem bewegt und nicht gejammert, sondern gemacht, was gemacht werden musste. Irgendwann kommt bei vielen Menschen dieser Punkt, an dem man die vermeintliche Sicherheit anstrebt. Man sagt, ich mache das um irgendwann, irgendwo in einem sicheren Hafen anzukommen. Nicht der Hafen der Ehe, sondern der sichere Hafen des Jobs, der Festanstellung, der sichere Hafen der Ausbildung. Das heißt, wir haben irgendwann eine gewisse Menge an Orden erarbeitet, haben sie an den Körper geheftet und gesagt, jetzt bin ich Industriekaufmann oder Superverkäufer, Handwerker oder studierter Jurist, Mediziner, BWLer wie auch immer und jetzt kann das Leben kommen und mir Jobs geben.
Das Interessante ist die innere Haltung, die sich umgekippt hat und diese Haltung hieß, jetzt habe ich gelernt und ich muss nicht weiterlernen, alles ist wie es ist und wir frieren diesen Zustand ein. Gebt mir eine feste Anstellung und jetzt verringert sich das Tempo des Dazulernens. Man kommt in die "reale Welt" außerhalb des Ausbildungssystems. Man sitzt irgendwo am Schreibtisch, hat eine feste Stelle, sitzt in einem festen Betrieb und muss nun gleichförmigere Arbeiten machen als vorher. Im Idealfall hat man eine Firma, die Menschen auf neue Herausforderungen vorbereitet. Aber häufig ist es so, dass man in einer gewissen Routine erstarrt. Das geht schnell. Man weiß, welche Kunden, Produkte, welche Abläufe, welche Abläufe nicht, welche Kunden nicht, welche Netzwerke sind doof, welche Kollegen sind nett oder doof. Man kommt in eine Spirale hinein. Der Chef befiehlt, wir folgen oder wir sind selbst Chef und wissen, was wir zu befehlen haben, welche folgen und welche nicht. Irgendwann wird das Sichweiterentwickeln ausgetauscht durch Sicherheitsdenken. Oder eine Art Expertenstatus im Betrieb, wo wir eine bestimmte Aufgabe haben, in diese Aufgaben reinrutschen und irgendwann sagt unser Gehirn, was sollst du jetzt noch lernen oder Günter sagt, was sollst du noch lernen, du weißt doch schon extrem viel.
Das heißt wir machen innerlich einen Dienst nach Vorschrift und das ist toll, weil wir in dieser Position sind, wo wir immer hinwollten. Wir fühlen uns kuschelig warm, wir leben in einem Umfeld, was keine größeren Herausforderung verlangt, wir haben das Ziel der Sicherheit erreicht, zumindest nach dem Ideal. Diese vermeintliche Sicherheit geht in der Regel einher mit einem gewissen Stillstand. Es gibt keine großen Veränderungen mehr. Wenn Sie jahrelang in einem Betrieb gearbeitet haben und treffen jemanden von früher und er sagt, wie gehts, na ja, es muss und dein Job, na ja noch soundso viele Jahre, und dann kann ich vielleicht eine Beförderung haben. Und das Leben plätschert vor sich hin. Was dabei verloren geht, und das ist der wichtige Punkt, ist der innere Antrieb, die Bereitschaft zu Lernen, die Lust am Job, die innere Beweglichkeit geht verloren. Und warum? Da wo früher eine Herausforderung war, Ziele suchen, Ziele erreichen, kommt jetzt eine Angst vor Verlust. Was ist, wenn ich meinen sicheren Job verliere oder einen Fehler mache? Was ist, wenn ich ein Risiko eingehe? Wir kommen in eine Richtung, die eher Festhalten am Alten bedeutet und Akzeptieren der Grenzen, in denen man sich befindet. Wir akzeptieren unsere Wohnung, unser Haus, unsere Straße, unser Gehalt. Wenn wir 200 € Gehaltserhöhung bekommen ist das viel und wir sagen Danke. Aber wir bewegen uns nicht weiter, sondern zementieren den Status quo. Im schlimmsten Fall geht das 30, 40, 50 Jahre und das wars dann mit unserer Weiterentwicklung.
Andererseits machen wir das aber erfolgreich. Was man bei Erfolgreichen und weniger Erfolgreichen unterscheiden kann, ist es der Punkt, dass sie irgendwo wachsen können. Sie sehen die Grenze, akzeptieren die Grenze nicht, sondern überwinden sie und bauen das, was sie gelernt haben, in die kleine Welt, in die Komfortzone ein. Das heißt es ist ein anderes Paradigma. Das Ziel heißt nicht Grenzen akzeptieren, Angst haben vor Mißerfolgen, sondern Grenzen überwinden und Neues dazulernen. Wer sein ganzes Leben lang etwas Neues lernt, ist immer noch beim Treppensteigen. Im Idealfall geht das Treppensteigen im alten Rythmus weiter, so wie früher in der Schule, jedes Jahr etwas mehr. Anders als im Betrieb, bei dem es wurscht ist, ob man zehn oder 13 Jahre dabei ist. Es ist nicht das Gleiche. Der, der 13 Jahre dabei ist, hat insgesamt drei Jahre mehr Zeit zu wachsen, Projekte zu machen und sich weiterzuentwickeln. Worauf möchte ich hinaus? Ich möchte sagen, wehe wenn wir diesen Fluss des Lebens verpassen, wenn wir abbremsen, wenn wir ein, zwei, drei Stufen verpennen, obwohl diese Stufen direkt vor uns sind und sagen, komm, klettere hoch, das schaffst du. Wenn wir es nicht schaffen, machen es andere Leute um uns herum, die sagen, ich gehe die Stufen einfach weiter. Vielleicht kennen Sie dieses unbefriedigende Gefühl, wenn man ein, zwei, drei Stufen verpasst hat und feststellt, dass diejenigen, die auf der gleichen Stufe waren, jetzt weiter hoch sind und diese Hürde scheint unüberwindbar.
Oder andersherum, wenn Sie zwei, drei Stufen im Fluss des Lebens weitergelaufen sind, haben Sie Freunde von früher, die stehengeblieben sind und Sie gucken nach unten und sagen, komm doch nach oben und die sagen, wie denn. Klar, sie haben keine Herausforderung mehr angenommen, haben sich nicht weiterentwickelt, sich nicht getraut, die nächsten Stufen zu laufen und trauen sich nicht soviel zu wie Sie. Was haben diese Leute gemacht, und was sollten sie nicht machen? Sie haben im ungünstigsten Fall den Lebensfluss, die permanente Veränderung verpennt, haben den Rythmus des Verbesserns verschlafen und sind eingerostet. Andererseits, wenn Sie sich weiterentwickeln wollen und schauen, wo die nächste Hürde ist, und Sie laufen die nächste Treppenstufe nach oben, und Sie machen das ein Leben lang, wird sich das Leben weiterentwickeln. Sie werden weiterhin in diesem Rythmus sein, das Leben macht Spaß, Sie haben Dopamin im Kopf, Kopfdoping, pures Doping, Doping von innen. Sie erleben einen Sinn, werden weiter wachsen, immer mehr sehen von diesem Wunder des Lebens, immer mehr verstehen, mehr Menschen kennenlernen, weniger Grenzen akzeptieren und sich dadurch viel sicherer fühlen, als jemand, der diese Entwicklung im Leben verpennt hat.