Interview mit Philipp Laux
Ich habe hier mit Philipp Laux eine schillernde Persönlichkeit bei mir. Philipp Laux ist einer derjenigen Menschen, die in ihrem Leben schon viele verschiedene Leben gelebt haben. Diese möchte ich einmal zusammenfassen: Philipp ist ehemaliger Fußballprofi, Torwart. Als Torhüter ist er sowohl in die Erste Bundesliga aufgestiegen als auch von dort abgestiegen. Er war sogar einmal Deutscher Fußballmeister, hat dann Psychologie studiert und ist momentan Sportpsychologe beim FC Bayern München. Vorher war er bei Hoffenheim angestellt. Und er ist jemand, der so richtig in der Materie drinsteckt: Psychologie und Coaching. Deswegen ist er auch hier bei uns. Und wir unterhalten uns jetzt über seinen Job, über seinen Werdegang und natürlich nicht über den FC Bayern München, weil er selbstverständlich Profi ist und darüber gar nichts sagt.
"Wie wird man denn Sportpsychologe? Klar, du hast eine gewisse Affinität dazu, aber warum denn eigentlich Sportpsychologie?"
"Bei mir liegt das fast schon auf der Hand, weil ich eine Laufbahn als Fußballprofi habe, mich der Sport schon immer interessiert hat, und als Torwart hat man natürlich auch eine gewisse Nähe zur Psychologie. Weil man doch in der Hütte da hinten drin immer nur reagieren kann und darauf warten muss, was auf einen zukommt. Manchmal muss man sich in einem Spiel auch minutenlang mit sich selbst beschäftigen. Das heißt, warten, was da kommt. Und da muss man sich tatsächlich nicht nur körperlich darauf vorbereiten, sondern auch mental. Dabei entsteht die Kombination, Sport plus Psychologie. Deswegen Sportpsychologe."
"Ich kann das nachvollziehen. Ich habe früher auch mal ein bisschen als Torwart gespielt, allerdings bin ich nicht über die Kreisliga hinausgekommen. Ich kann das also verstehen. Das ist eine spannende Position da hinten. Da fühlt man sich manchmal ziemlich ohnmächtig, wenn da etwas kommt, der Gegner ist ein bisschen stärker, da haut es einem die Kisten links und rechts rein und autsch, das tut weh."
"Ja, das kann auch sein. Es gibt aber auch schöne Momente. Vielleicht hast Du diese dann auch einmal erlebt. Also wenn man einen Lauf hat, wenn man sich schon fast für unbezwingbar hält, wenn man gute Aktionen hat und so ein Spiel von alleine läuft. In der Psychologie würde man vielleicht von einem Flow-Erlebnis sprechen. Das kommt selten vor, aber das gab es auch bei mir. Natürlich auch einmal die Phasen, wo man eine Flanke unterlaufen hat, und das Spiel dann ganz plötzlich in eine andere Richtung geht."
"Also ich kann mich daran erinnern, dass es Spiele gab, wo ich dachte, wie geht das jetzt eigentlich. Du hast jetzt irgendeinen Reflex gemacht, und das Ding ist nicht im Tor. Und du hast dann noch eine Reaktion gemacht. Du denkst nicht, sondern du funktionierst automatisch. Kennst du dieses Gefühl? Man funktioniert automatisch und es läuft alles richtig."
"Ja, stimmt. Spieler beschreiben nach der ersten und zweiten guten Aktion, dass das ganze Spiel dann von alleine läuft, unabhängig von der Torwartposition. Dass sie dann einfach Selbstvertrauen haben. Sie schildern aber auch manchmal, dass wenn der erste Ball nicht ankommt, dass dann eine gewisse Verunsicherung entsteht."
"Wenn ich jetzt einmal versuche, das Gehirn-biologisch herzuleiten, ist es ja so, dass wir da oben in unserem Gehirn eine Menge Synapsenverknüpfungen haben. Dass unsere Bewegungsabläufe irgendwo im Kopf abgespeichert sind. Die Aufgabe von Training ist es, diese Routinen so weit entstehen zu lassen, dass ich sie unter allen möglichen Umständen abrufen kann. Das heißt, ich habe die Routinen drauf, ich muss nur bereit sein, die richtigen Knöpfe zu drücken, um diese Routinen zu aktivieren. Wenn ich jetzt aber Stress habe, oder Misserfolg oder Frust, dann fange ich an, das ein oder andere Mal nachzudenken. Und je mehr ich nachdenke, grübele und mich unter Druck setze, desto schlechter funktionieren die Routinen."
"Ja, das ist sehr gut beschrieben. Das ist die Basis der Sportpsychologie. Das heißt, dass der Kopf letztendlich in Drucksituationen den Körper unterstützt und nicht blockiert."
"Das bedeutet, der Sportpsychologe ist derjenige, der dir sagt, pass auf lieber Spieler, wenn du in einer Drucksituation bist, dann kannst du auf diesen oder jenen Knopf in deinem Kopf drücken und plötzlich empfindest du den Druck nicht mehr als so stark. Du kannst auf dieser Flow-Ebene weiterspielen."
"Das ist fast schon zu vereinfacht, dass man sagt, man kann auf einen Knopf drücken. Sportpsychologie hat viel mit Training zu tun. Training für den Kopf und im Kopf. Die Synapsen im Kopf werden durch ständiges Aktivieren durch mentales Training, aber natürlich auch durch das reine Training auf dem Platz gestärkt werden. Gerade in Drucksituationen, wenn sie gestärkt sind und eng verknüpft sind, letztendlich Bewegungen im Unterbewusstsein ablaufen zu lassen. Das ist das Ziel."
"Also, Stichwort mentales Training. Das heißt, Du kannst dich mental auf ein Spiel vorbereiten. Das wird irgendetwas Anstrengendes sein, sagen wir ein Pokalspiel, hopp oder topp, es geht um alles. Wenn du verlierst, bist du draußen. Dann musst du dich mental vorher auf das Spiel einstellen, weil erst mit dieser mentalen Einstellung bist du bereit, in der realen Situation, die Leistung abzurufen oder du kannst dich so gut auf die Situation einstellen, dass du dann auch unter diesen Umständen deine Top-Leistung abrufst. Was habt ihr denn gemacht, bevor es Sportpsychologen gab?"
"Eine sehr spannende Frage. Ich glaube, dass es Mechanismen waren, die Spieler vielleicht sogar automatisch gemacht haben. Ich glaube auch, dass es nicht zwingend notwendig ist, in jeder Mannschaft einen Sportpsychologen zu haben. Wenn Spieler die Mechanismen und die Arbeitsweisen vor allem des Gehirns verstehen, ist es möglich, sich auch ohne Sportpsychologen mental auf ein Spiel vorzubereiten. Es fängt schon mit Kleinigkeiten an: gegen welchen Gegner spiele ich, wie ist die Platzbeschaffenheit, wie sieht das Stadion aus, in dem ich spiele, was sind die Stärken des Gegners, was sind die Schwächen des Gegners? Und ich glaube, das gab es auch schon vor der Sportpsychologie, dass sich Spieler so auf ein Spiel eingestellt haben."
"Also im Prinzip sind es ähnliche Fragen, als wenn ich jetzt ein Kundengespräch führe, und ich überlege mir vorher noch einmal, wie sieht mein Produkt aus, wie sieht das aus, was der Kunde haben möchte, wo könnte das was bringen, welche Fragen könnte er mir stellen? Also das in Gedanken vorher noch einmal durchzugehen. Oder wir kennen das alle aus der Schule. Wenn der Lehrer bei einer mündlichen Prüfung bestimmte Fragen gestellt hat. Diese mündlichen Fragen dann vorher noch einmal durchgehen. Sich in die Situation hinein visualisieren. Wie sieht es da aus, wie werde ich mich fühlen? Man könnte auch sagen, das ist gesunder psychischer Menschenverstand?"
"Ja, wenn der Menschverstand gut funktioniert, dann ist es gesunder Menschenverstand. Ich glaube, dass ist letztendlich die Kunst, ob im Sport oder in der Wirtschaft, sich immer wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sich tatsächlich auf das vorzubereiten, was auf einen zukommt. Das ist ein Teil der Sportpsychologie: mentales Training. Das geht auch um Zielsetzung, es geht um Emotionskontrolle. Das sind alles Dinge, die man schon im Vorfeld bearbeiten kann, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass man letztendlich, in welchem Bereich auch immer, erfolgreich sein wird."
"Jetzt ist es im Leben ja oft so, dass man in Situationen reingeschmissen wird, in die man unvorbereitet reingeht. Ich glaube du hast auch einen relativ heftigen Sprung gemacht. Als du mit dem Sport angefangen hast, bist du als ganz junger Kerl zu Borussia Dortmund gewechselt. Von welchem Verein kamst du? Wieviele Ligen hast du übersprungen?"
"Ich habe in der Dritten Liga gespielt. Zu der Zeit hieß diese Liga noch Oberliga. Beim VfB Gaggenau. Es war tatsächlich ein Riesen-Sprung für mich. Es war so, dass wir abends trainiert haben. Es waren also keine Profi-Bedingungen in dem Sinne, wie sie heutzutage in der Dritten Liga herrschen. Wir haben nach jeden Training ein Bierchen getrunken. Die Kameradschaft stand im Vordergrund. Die Dritte Liga ist für einen 18-Jährigen natürlich schon ein relativ hohes Niveau. Ich habe dort zwei Jahre gespielt, bis mich die Scouts von Borussia Dortmund da entdeckt und zum Probetraining eingeladen haben."
"Probetraining bei Borussia Dortmund, mit 18 Jahren. Ich meine, das muss doch der absolute Knaller sein. Wer war denn damals Torwart bei Dortmund?"
"Stefan Kloos."
"Mein Gott, der große Stefan Kloos. Jetzt kommt der kleine Philipp Laux daher und darf auf einmal mit dem Stefan Kloos trainieren."
"Die drei Tage waren wirklich unglaublich. Hitzfeld war Trainer. Teddy de Baer hatte sich zu dieser Zeit das Wadenbein gebrochen. Es wurde mehr oder weniger sein Karriereende prophezeit, was dann zum Glück für ihn nicht eintrat. Aber aus diesem Grund haben sie einen Torwart gesucht, einen jungen Torwart hinter dem Stefan Kloos. Ich war dann drei Tage dort und habe mit den Jungs trainiert. Das war schon eine klasse Erfahrung. Hitzfeld sagte, ich hätte gut trainiert. Sie werden schauen, was sie mit mir machen."
"Was ist das für ein Gefühl? Ritterschlag. Otmar Hitzfeld. Was waren da für Spieler, da waren doch ein paar berühmte Namen dabei? Wer hat damals alles bei Dortmund gespielt?"
"Es war schon eine bunte Truppe. Karl-Heinz Riedle, Frank Mill, Michael Schulz, Matthias Sammer, Stefan Reuter, es war eine wirklich erfahrene Profi-Truppe."
"Wow, mit 18. Und damals gab es keinen Sportpsychologen. Wie geht Philipp damit um?"
"Da ist eine gute Frage. Ich bin ganz ehrlich. Ich war zu der Zeit tatsächlich überfordert. Ich war mental nicht darauf vorbereitet, was mich dann erwartete. Ich wurde nach dem Probetraining tatsächlich verpflichtet. Ich bekam einen Zweijahresvertrag. Merkte aber nach einem Jahr, dieser Profisport ist in der Form nichts, oder noch nichts für dich, Philipp. Da muss man ganz ehrlich sein. Das war eine ganz, ganz harte Zeit. Ich glaube ich war vom Kopf her nicht darauf eingestellt, was mich da erwartet."
"Das heißt, du warst mittlerweile zweiter Torwart. Und bist dann von Dortmund weggegangen. Wo bist du dann hin?"
"Ich bin dann zum SSV Ulm gewechselt, weil ich einfach wieder Fußball spielen wollte. Es wurde eine neue Liga gegründet, die Regionalliga. Im Jahr 1994 war das. Und ich hatte einfach wieder Bock, Fußball zu spielen. Ich wollte wieder auf dem Platz stehen. Ich wollte einfach wieder das Gefühl haben, ein wichtiger Teil der Mannschaft zu sein. Ich habe dann entschieden, einfach wieder zwei Ligen zurückzugehen. In die alte Heimat. Nach Baden-Württemberg. Ich habe mich sehr auf die neue Liga gefreut. Und auf den SSV Ulm. Es war dann im Nachhinein auch die richtige Entscheidung."
"Dann war es ja nichts mit der Beschaulichkeit für immer, sondern das ging ja dann richtig ab. Dann ist Ulm durchmaschiert von Liga Nummer drei in Liga Nummer eins. Ihr seid in einem Jahr durch die zweite Liga durchmarschiert. Das war damals eine Riesen-Geschichte. Wie durchläuft man von der Liga Nummer drei, die Zweite Bundesliga in die erste, wie geht so etwas."
"Ich denke, da kommen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen mit Ralf Rangnick ein Trainer, der den Verein neu strukturiert hat. Dann eine Mannschaft, die hungrig war, Neues zu lernen. Und auch offen und bereit war, Neues zu lernen. Ein toller Teamgeist und gute Charaktere, die das Ganze mitgetragen haben."
"Das heißt, eine Millionentruppe wart ihr damals nicht. Aber trotzdem habt ihr einige weggeputzt, die vom Budget deutlich über euch lagen. Das heißt, ich kann, wenn die Faktoren stimmen, also Teamgeist stimmt, die Chemie zwischen den Leuten stimmt, es stimmen die Strukturen, dann kann ich auch mit Mannschaften etwas reißen, die auf dem Papier erst einmal gar nicht so wertvoll sind?"
"Ja, das ist mit Sicherheit so. Ich glaube, dass es enorm wichtig ist, dass du grundsätzlich eine gute Truppe hast, die offen ist für Neuentwicklungen, die Ralf Rangnick mit Sicherheit eingebracht hat. Dann ist es tatsächlich möglich, auch immer an diese 100 Prozent-Grenze zu gehen, als Individuum, aber auch als Team. Und dann ist es auch möglich, andere Mannschaften zu schlagen, die formal besser besetzt sind."
"Das bedeutet, dass wir hier nicht nur ein Einsparpotenzial haben für viele Mannschaften. Wie es sicherlich auch im betriebswirtschaftlichen Umfeld ist, dass wenn diese Faktoren stimmen, dass man da sehr viel sparen kann. Man kann ja auch viel dazu gewinnen. Ihr habt damals Riesen-Schritte nach vorne gemacht. Ihr seid in die Erste Fußball-Bundesliga aufgestiegen. Wird dieses Potenzial heute in der Regel in der Fußball-Bundesliga überhaupt systematisch entwickelt?"
"Ich kann jetzt nicht von anderen Vereinen sprechen, weil ich nicht weiß, wie dort gearbeitet wird. Unter den Trainern, unter denen ich gearbeitet habe, als Spieler, vorwiegend bei Ralf Rangnick war es so, dass immer versucht wurde, aus dem was da war, Dinge zu entwickeln, Dinge besser zu machen. Jetzt als Sportpsychologe ist es natürlich auch in meinem Bereich wichtig, Spieler immer wieder weiterzuentwickeln, neue Dinge aufzuzeigen, wie man vielleicht die körperliche Leistung durch den Kopf noch steigern kann."
"Dann warst du in der Zweiten Bundesliga, dann in der Ersten Fußball-Bundesliga wieder angelangt. Dann als Nummer eins, als dauerhafte Nummer eins. Du warst Mannschaftskapitän dort. Ihr hattet schon relativ früh in der Saison eigentlich so viele Punkte gesammelt, dass ihr dachtet, eigentlich kann da nichts mehr schiefgehen."
"Das war glaube ich das große Problem. Wir hatten am 24. Spieltag 30 Punkte. Wer sich im Fußball ein bisschen auskennt, weiß, dass grundsätzlich 35/36 Punkte reichen, um in der Ersten Liga zu bleiben. Dann haben wir beim HSV 2:1 gewonnen, dachten wir wären tatsächlich schon die Größten, haben alles erreicht. Die sechs Punkte werden wir schon irgendwie holen in den nächsten zehn Spielen. Aber es war bei weitem nicht so."
"Danach kam direkt eine ganz böse Klatsche. Ihr habt gegen Leverkusen verloren, aber nicht nur irgendwie, sondern ihr habt 9:1 gegen Leverkusen verloren."
"Heute kann ich darüber schmunzeln, aber das war wirklich, wie du dir vorstellen kannst, ein ganz brutaler Tag für die Mannschaft, aber auch natürlich für mich da hinten drin in der Kiste. Neun Stück zu bekommen, das ist nicht schön für einen Torwart. Es war tatsächlich so, dass Leverkusen an diesem Tag alles hätte machen können. Sie hätten von der Mittellinie schießen können, der Ball wäre vom Pfosten an die Innenlatte, mir an den Hinterkopf und ins Tor gegangen. Das war die harte Realität an dem Tag."
"Ich frage mich jetzt, wie man damit umgeht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte neun Dinger reingeschossen bekommen, da guckt die Sportschau zu. Da schaut die halbe Nation zu. Ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte, am nächsten Samstag wieder in die Kiste zu gehen."
"Das war tatsächlich schwer. Ich habe mich schwer getan, diese Woche zu verarbeiten und dieses Spiel zu verarbeiten. Die kommende Woche war hart. Das hat man der Mannschaft dann in Unterhaching auch angemerkt. Wir haben versucht, zu Null zu spielen. Haben dann leider 0:1 verloren. Das war wirklich schwer, das auch vom Kopf her zu verarbeiten."
"Das heißt, ihr habt sogar zwei gemeine Geschichten gehabt. Ihr habt einmal gewonnen, 2:1, fühltet auch zu sicher. Dann lässt die Spannung ein bisschen nach, dann kriegt ihr einen Riesen-Nackenschlag, dann muss man noch mit dieser psyschichen Bürde umgehen. 9:1, das ist eine Deklassierung. Dass man damit wieder versucht aufzustehen. Aber so richtig geklappt mit dem Aufstehen hat es ja dann nicht mehr."
"Ich glaube, das war der entscheidende Punkt, dieses 2:1 in Hamburg. Dieser Sieg hat uns zu sicher gemacht. Dann ist es brutal schwer, wenn man sich schon sehr sicher fühlt, dass man in der Ersten Liga bleibt. Und dann so ein brutales Erlebnis erlebt. Dass es dann enorm schwierig ist, wieder Kontunioität und Stabilität in der Truppe zu bekommen. Da war große Unsicherheit und diese Unsicherheit haben wir bis zum Schluss nicht mehr ablegen können."
"Das ist faszinierend, ihr habt eigentlich aus einer Drittliga-Mannschaft eine mentale und von der Konstitution her, von der Organisation, von der Struktur her, habt ihr eine Erstliga-Mannschaft gemacht, die wunderbar funktioniert hat. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ein paar Faktoren zusammengekamen: Ihr habt euch zu sicher gefühlt, dann habt ihr tatsächlich euren Meister gefunden und auf einmal bricht das Ganze wie ein Kartenhaus zusammen. Und dann wart ihr wieder in Liga Nummer zwei. Und du warst dann auch nicht mehr lange beim SSV Ulm. Du bist dann irgendwann wieder zurückgegangen nach Dortmund."
"Für mich war das eine schwere Entscheidung. Ich war Kapitän in Ulm, aber wollte einfach noch einmal eine neue Herausforderung. Ich kannte Dortmund, ich war sechs Jahre in Ulm. Ich war dem Verein sehr verbunden und habe gespürt, ich muss einen neuen Schritt tun. Ich muss mich auch selber noch einmal weiterentwickeln. Ich habe von Borussia Dortmund eine schöne Chance bekommen, auch zusammen mit dem Jens Lehmann das Torwartduo bei Borussia Dortmund zu bilden."
"Jetzt ist Jens Lehmann nicht unbedingt einer, wo man sagt, ja wenn ich mit dem Lehmann konkurriere, dann werde ich ganz klar an Platz eins stehen, sondern das ist schon eher so, das war ja damals auch so, dass Jens Lehmann neben Olli Kahn ganz klar an der Spitze der deutschen Torhüterhierarchie stand. Du musstest dich auf den zweiten Platz einrichten. Und ich kann mir vorstellen, dass das auch nicht so ganz leicht ist. Wenn man von Platz eins in der Mannschaft, von der Kapitänssituation plötzlich auf die Bank rotiert. Wie bist du damit umgegangen?"
"Ich habe zuallererst meine Chance gesehen. Jens Lehmann hatte zu dieser Zeit keinen leichten Stand in Dortmund. Gerade beim Publikum war es schwer für ihn. Er kam vom AC Mailand, aber hatte eine Schalker Vergangenheit. Das wusste ich alles. Insofern habe ich eine minimale Chance gesehen, ihn vielleicht sogar zu verdrängen oder ihn so unter Druck zu setzen, dass er Fehler macht. Es war unwahrscheinlich, aber zu allererst sah ich einmal die Chance."
"Das finde ich jetzt spannend. Also Torhüter, selbst wenn sie gemeinsam für eine Mannschaft spielen, sind doch in einer solchen Drucksituation oder Konkurrenzsituation, dass man sich auch wünscht, an einem anderen vorbei auf den ersten Platz zu hüpfen. Wie geht man da im Training miteinander um?"
"Vorneweg einmal: Ich habe dem Jens nichts Böses gewünscht, das ist nicht meine Art. Aber natürlich versucht man, den Konkurrenten unter Druck zu setzen. Mit seiner eigenen Leistung, mit fairen Mitteln. Aber doch immer wieder versuchen, an seine eigene Grenze zu gehen und somit auch das Gegenüber zur Bestleistung anzuspornen. Auch in der Hoffnung, dass er vielleicht unter dem Druck Fehler macht. Jens Lehmann hatte die Konkurrenzsituation angenommen. Er hat im Training richtig Gas gegeben, ich auch. Die ersten drei Monate waren das schon gute Kämpfe. Als er einmal krank war, habe ich zwei Spiele gemacht. Als er wieder in das Tor kam, wusste er, dass er die Rückendeckung des Trainers hat und ich die klare Nummer zwei bin. Ab diesem Zeitpunkt hat sich unser Verhältnis auch entspannt."
"Das heißt, irgendwann war die Hierarchie klar. Aber du hast auch gespielt. Es war also nicht so, dass du nur auf der Bank gesessen hast, sondern du wusstest, wofür du trainierst. Du bist jemand, der tatsächlich auch gebraucht wird. Dann kann ich mir vorstellen, dass man sich da auch so auf ein Spiel vorbereiten muss, auch wenn man sich auf die Bank setzt. Dass man sich so vorbereiten muss, als ob man real spielt."
"Diese Situation ist fast noch schwieriger als wenn man klare Nummer eins ist. Weil man von vorne herein weiß, dass man spielt. Wenn man auf der Bank sitzt, ist es sehr schwer, sich auf die Situation vorzubereiten, wenn dann einmal der Ernstfall eintritt. Aber ich habe das einfach so gehandhabt, dass ich mir immer gesagt habe: Philipp, stell dich so auf das Spiel ein, als ob du jetzt von der ersten Minute an spielen würdest. Das war zwar auf Dauer enorm anstrengend, auch energieraubend, das muss man ganz ehrlich sagen, weil man zum Großteil ja nicht eingesetzt wurde. Das hat mir aber in den Phasen geholfen, als dann tatsächlich einmal ernst wurde."
"In dieser Saison bist Du dann auch Deutscher Meister geworden, also Du bist ein echter Deutscher Fußball-Meister. Also das, wovon wir alle als kleine Jungs träumen, also nicht nur als kleine Jungs, sondern auch noch als ganz große Jungs. Wenn wir einmal gewinnen oder unsere Mannschaft, dann feiern wir, als hätten wir den Sieg errungen. Ich denke, dass da jeder seine eigenen Erfahrungen mit gemacht hat. Aber trotzdem hat es Dir irgendwann einmal gestunken, Nummer zwei zu sein. Dann bist Du wieder zurückgegangen in eine andere Liga, um dann wieder als Nummer eins spielen zu können."
"Ja, das ist richtig. Ich konnte das zwei Jahre ganz gut ertragen. Ich habe bei Borussia Dortmund auch versucht, meine Energie in die Mannschaft zu geben. Aber nach zwei Jahren war dann auch die Energie aufgebraucht. Ich brauchte unbedingt wieder die Herausforderung, auf dem Platz zu stehen. Bin dann noch einmal in die Zweite Liga gewechselt, nach Braunschweig. Musste da aber leider nach sieben oder acht Spielen in der Zweiten Liga aufgrund von einem Knorpelschaden meine Karriere beenden."
"Ich kann mir vorstellen, dass das richtig heftig ist. Wenn der Körper sagt, autsch, geht nicht mehr, hör auf. Dann muss man sich doch von einem Tag auf den anderen, na, es ist ja nicht von einem Tag auf den anderen, aber doch letztlich endgültig damit arrangieren, was völlig anderes zu machen. Du hast es gemacht. Du hast Psychologie studiert. Du hast vorhin schon anklingen lassen, dass Psychologie für Dich auch damals in der Ulmer Zeit, dass es die Einstiegstür für dich gewesen ist, dass du gesehen hast, was man so alles mit der Psychologie machen kann. Und du bist dem Sport jetzt auch treu geblieben. Du hast zwischenzeitlich bei vielen Mannschaften als Torwarttrainer auch gearbeitet, ich glaube du hast auch mit den Nationalmannschaften gearbeitet, mit welchen?"
"Ja, ich habe mit den Jugend-Nationalmannschaften gearbeitet, U18 bis U21. Sehr spannend war auch die Arbeit mit der Nationalmannschaft der Frauen, die ich eineinhalb Jahre als Torwarttrainer betreut habe. Das war auch eine klasse Erfahrung."
"Und dann bist du zu Ralf Ragnick in den Trainerstab nach Hoffenheim gegangen. Wie kam es dazu? Waren das noch die alten Ulmer Verbindungen?"
"Ja, Ralf Ragnick hat meinen Werdegang verfolgt. Er wusste, dass ich Psychologie studiere und dass ich als Torwarttrainer beim DFB bin. Er sagte dann, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Er gab mir die Möglichkeit, bei den Profis Torwarttraining zu übernehmen. Und im Amateur- und Jugendbereich die Sportpsychologie zu gestalten und aufzustellen. Das war natürlich sehr spannend, weil auch mein Freund Dr. Hans-Dieter Hermann im Profibereich die Sportpsychologie gemacht hat und wir somit das eigentlich gemeinsam angehen konnten."
"Hans-Dieter Hermann ist der Hans-Dieter Hermann, der auch mit der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft damals im Jahre 2006 unter Jürgen Klinsmann gearbeitet hat. Stichwort Jürgen Klinsmann, der hat dich dann auch zu den Bayern geholt. Da arbeitest du noch nach Jürgen Klinsmann unter Jupp Heynckes und jetzt in der kommenden Saison auch unter Herrn van Gaal. Wie sieht das aus? Ich habe den Eindruck, du bist als Sportpsychologe glücklich. Was bedeutet das die Sportpsychologie im Sport, wie wird die sich entwickeln in den nächsten Jahren. Glaubst du, die Sportpsychologie wird sich weiter verbreiten? Sie wird ein höheres Ansehen bekommen?"
"Ich glaube das. Ich glaube schon 2006 bei der Weltmeisterschaft hat man gesehen, wie wichtig es ist, ein gutes Team zu haben. Wie wichtig es ist, unter Druck Top-Leistungen abrufen zu können. Das sind schon wichtige Faktoren. Ich glaube, dass das Bewusstsein immer größer wird. Auch bei den Bundesligavereinen, dass es nicht nur auf technische und taktische Fertigkeiten ankommt, sondern, dass auch der mentale Bereich eine wichtige Rolle spielt."
"Der mentale Bereich. Jetzt kann man sich vorstellen. Mensch, die Jungs verdienen so viel Geld. Sollten die nicht von sich aus motiviert sein, da ganz oben ander Spitze? Oder würdest du sagen, das ist dann doch wieder etwas Menschliches?"
"Ich glaube, dass es darum geht, ganzheitlich zu arbeiten. Es geht gar nicht so sehr darum, auf ein Spiel bezogen, wir machen motivational hier jetzt eine Riesengeschichte bei diesem Spiel, sondern es geht darum, kontinuierlich um eine Weiterentwicklung des kompletten Spielers. Das heißt, diesen mentalen Bereich auch als ganz normalen Bereich zu sehen, wie es der Fitnessbereich ist, wie es der taktische und der technische Bereich sind. Um da auch noch Potenzial zu sehen, wo kann ich noch besser werden. Um somit länger zu spielen, um somit bessere Verträge zu erhalten, um somit am Ende der Saison oder am Ende der Karriere dann sagen zu können, ich habe das Optimale aus mir herausgeholt."
"Apropos Ende Karriere, danach ging es ja auch weiter. Wenn jemand in jungen Jahren gelernt hat, sich mit seiner Psyche auseinander zu setzen, sich zu motivieren, dann hilft ihm das sicherlich auch im weiteren Leben. Insofern haben wir beide ja den gleichen Job, in einem anderen Umfeld. Philipp, ich danke dir sehr für dieses Interview, das war eine große Freude. Ist ganz toll, was du erzählt hast, so schön aus der Praxis. Ich denke, da kann man sehr vieles auch auf den Wirtschaftsbereich übertragen. Kannst du dir vorstellen, dass das Thema Psychologie nicht nur im Sport interessant ist, sondern auch im Wirtschaftsbereich oder im persönlich, privaten Bereich? Hast du Ambitionen, auch mal therapeutisch tätig zu werden, oder im Bereich von Coachings außerhalb des Sportbereichs?"
"Ja, das ist mit Sicherheit schön, weil man dort auch Dinge vermitteln kann. Es ist ganz klar, dass Mechanismen, die im Sport greifen in der Wirtschaft mit Sicherheit auch wichtig sind und auch umgekehrt. Ich glaube, beide Gebiete können voneinander lernen und auch profitieren. Und es ist schon auch ein Ziel von mir, im Coaching-Bereich zu arbeiten. Ich denke, als Sportpsychologe ist man auch Berater und Coach. Unsere Bereiche unterscheiden sich da nicht, beide Felder sind sehr spannend. Und es ist auch interessant, die Erfahrungen, die man selber gemacht hat, dort weiterzugeben."
"Ich habe den Eindruck, wir können beiden voneinander lernen, dass da ganz viele Schnittmengen sind und ich würde mir wünschen, dass viele Menschen, so wieder Philipp mal ein bisschen über den eigenen Tellerrand gucken und gucken, was es in den Nachbardisziplinen Schlaues zu erfahren gibt.
"Herzliche Schweindehund-Grüße, Ihr Stefan Frädrich."